Bericht von Florian Leu
(aus dem Jahrbuch «Kiriat Yearim 1951-2011»)
Im Kinderdorf Kiriat Yearim. Die Lehrkräfte sind alle paar Tage heiser, das Betreuungspersonal rennt rund um die Uhr durchs Dorf. Ein Tag im Leben eines ungewöhnlichen Ortes. Ein Tag kurz nach den Ferien, voller Chaos, voller Leben.
8 Uhr
Ein Junge steht vor einem der Häuser. Gerade hat er sein Zimmer mit dem «Pulp Fiction»-Poster verlassen, jetzt trinkt er Kaffee aus einer Plastiktasse. Es ist windstill, der Dampf aus der Tasse steigt senkrecht zum Himmel. Der Junge hat Augenringe wie ein Schlafloser. Wach werden, sagt er, sei das Schwierigste überhaupt. Er macht ein paar Schritte, und es sieht aus, als seien seine Beine aus Holz.
Er ist einer von Dutzenden, die vor den Schlafhäusern stehen und die Müdigkeit mit Tabak und Koffein zu vertreiben suchen. Das Betreuungspersonal ruft sie ins Gruppenzimmer, wo sie im Kreis sitzen und in ihren Stühlen versinken. Die Handys piepsen, überall dudelt es aus den Taschen. Es sind aber keine Klingeltöne, ein Abo kann sich kaum einer leisten hier. Es sind die drei oder vier Lieblingslieder, die sie immer bei sich haben.
Der Fernseher scheint auf, der Tag beginnt mit Nachrichten. Heute geht es um die drei Schüsse, die ein Attentäter in Yitzhak Rabins Rücken gefeuert hat, 15 Jahre ist das her. Die Kinder sind mit einem Schlag wach.
9 Uhr
Die Schule hat angefangen, aber als ich vor den Klassenzimmern stehe, wähne ich mich in der Pause. Zwei Jungs prügeln sich und bewerfen einander mit Dreck. Zwei Mädchen sitzen auf einer Mauer, und aus ihren Handys scheppert die Hitparade. Eine Gruppe hockt im Schatten des Schulhauses und spickt Steinchen durch die Luft.
Die Lehrerinnen und Lehrer rennen umher und ermahnen die Kinder, suchen sie überall im Dorf zusammen und schicken sie zur Schule. Die Lehrkräfte: Meist sind sie nicht nur Vermittler von Wissen, sondern auch Hydrauliker des Sozialen. Vier Tage war ich im Dorf und sprach mit einem halben Dutzend von ihnen. Besonders aufgefallen ist mir dabei: Immer war einer oder eine von ihnen heiser und konnte nur noch im Flüsterton reden.
Kurz nach neun ereignet sich ein Wunder: Die Klasse der Kommunikationslehrerin Esther Birs ist vollzählig: eine von neun Klassen à rund 15 Schülerinnen und Schüler, die in Kiriat Yearim unterrichtet werden. Zwei Dutzend zappelnde Beine unter abgewetzten Pulten. Das Thema der Stunde reizt die Jugendlichen. Es geht um einen Dokumentarfilm, den sie bald in Angriff nehmen werden. Letztes Jahr hat eine Klasse einen Film über einen Mitschüler gedreht, der dauernd ausgerissen ist. An einem Festival hat der Streifen einen Preis gewonnen, weil er so hart und klar ist.
Ein Junge möchte einen Film über die Frisur seiner Mutter drehen, die aus Äthiopien eingewandert ist. Er will herausfinden, warum sie keinen Afro-Look trägt wie die Verwandten auf den Bildern von früher. Er will wissen, warum sie glatte Haare wie die Weissen hat. Das Thema stösst auf Zustimmung. Vier von fünf Schülern haben Eltern, die aus Äthiopien eingewandert sind und in Israel ihre Frisur verändert haben.
Eine Junge dreht sich mitten in der Diskussion nach mir um und fragt: «Gibt es schöne Mädchen in der Schweiz?» Nach der Stunde zupft sich der Junge die Haare zurecht und prüft im Spiegel, ob sie gut liegen. Dann kommt er mit einem Lächeln auf mich zu und fragt mich auf Englisch, was ich in mein Büchlein geschrieben habe. Ich zeige ihm die Seiten und übersetze ihm ein paar Sätze. Er klopft mir auf die Schulter und sagt: «Es freut mich, dass du gekommen bist. Nächstes Jahr komme ich dann zu dir.»
Der Junge ist Mitglied im dorfeigenen Chor «The Spirit of Yearim» und übt zurzeit die Lieder, die er im nächsten Frühling auf der Tournee durch die Schweiz singen wird. Es wird seine erste Reise ins Ausland sein. Er stopft sich seine Jeans in die Schuhe, das ist in Kiriat Yearim zurzeit der letzte Schrei. Dann blinzelt er mir zu und schlendert davon.
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